C. Sibille: Harmony Must Dominate the World

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Titel
«Harmony Must Dominate the World». Internationale Organisationen und Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Sibille, Christiane
Reihe
Quaderni di Dodis (6)
Erschienen
Bern 2016: Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS)
Anzahl Seiten
264 S.
von
Thomas Schipperges, Musikwissenschaftliches Institut, Eberhard Karls Universität Tübingen

Uralt ist und in allerlei Studien immer mal wieder neu aufgewärmt wird der Topos von einer universellen und menschheitsverbindenden Wirkungsmacht der Musik. Der Buchtitel – Motto eines australischen Friedensaktivisten Mitte der 1930er Jahre – wird ähnlich etwa auch in Händels Saul reflektiert: Michal und der Hohe Priester stellen eine musikbezogene Verbindung her zwischen «peace», «hope» und «a fair harmonious world». In der Einleitung des vorliegenden Buches adressiert diesen Konnex ein den Völkerbund adressierender Leserbrief an die britische Schallplattenzeitschrift Gramophone aus dem Jahre 1925: Musik ist nicht national, vielmehr international, ja universal – «it should rather give feeling of fellowhip and communal goodwill». Immerhin: «... sollte ... vermitteln». Im «affirmativen Grölen» (Peter Sühring, in: FAZ, 14. Mai 2020) von Beethovens Neunter werden die Skeptiker einer Völkerverbrüderung im Zeichen der Musik mit martialischem Geschepper und Tränenbefehl aus dem jubelnden Bund gleich wieder aussortiert. «Bösewichter haben keine Lieder» (Seume, 1804)? Nein, Musik hat die Welt in den 35‘000 Jahren seit ihrer historischen Greifbarkeit wohl schöner, aber nicht besser gemacht. Umgekehrt lieferte diese Denkfigur vielmehr allerhand Vorwand, Musik als Machtmittel nutzbar zu machen. Solche Einflüsse belegt auch die hier vorliegende Studie zu Wechselwirkungen von Musik und internationalen Organisationen. Sie hinterfragt «traditionelle Vorstellungen von scheinbarer musikalischer Universalität» (S. 18) und richtet den Blick auf das Spannungsverhältnis von zunehmend globaler institutioneller Repräsentation und nationaler Selbstbehauptung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Christiane Sibille führt das facettenreiche Thema ihrer vielschichtigen Dissertation in einer Reihe systematisierter Fallstudien mit reichem Erkenntnisgewinn durch. Die Arbeit entstand zwischen Geschichte (Madeleine Herren-Oesch) und Musikwissenschaft (Dorothea Redepenning), zwischen Heidelberg und Basel, zwischen Universitäten und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Nur zu bewundern ist die Quellenvielfalt, die Sibille auf konzentriertem Raum mit wechselnden Ebenen darzustellen weiss. Das Material, auf zehn eng bedruckten Seiten im Anhang gelistet, «reicht von Schallplattenkatalogen über Tagebücher, Zeitschriften und Kongressberichte bis hin zu offiziellen Sitzungsprotokollen und Beschlüssen der internationalen Kommissionen des Völkerbundes» (S. 24). Hinzu kommen mehr als zwanzig weitere Seiten Sekundärtexte, die ein ausführlicher Literaturbericht vorzüglich reflektiert aufschlüsselt (S. 27–38; womöglich just angesichts dieser eindrucksvollen Fruchtlese erscheint die von Curtius schon für die Antike aufgewiesene Exordialtopik des «ich bringe noch nie Gesagtes» einmal mehr unverzichtbar).

Wie von einer gesellschaftshistorischen Arbeit im Kielwasser der New Musicology zu erwarten, unterzieht sich auch diese Studie einer weitläufigen methodischen Absicherung und unternimmt, dankenswerterweise, damit verbundene begriffliche Klärungen. Im Kontext globalgeschichtlicher Forschungen etwa erscheint der Musikbezug internationaler Organisationen eingespannt zwischen die Entstehung europäischer Kunstmusik in einem abgegrenzten Kulturraum und deren globale Verbreitung einerseits sowie nationalisierende Tendenzen nicht-europäischer Musik andererseits. So vermag Musik als organisierter Klang, «bei Bedarf einen universellen Charakter von Musik» zu konstruieren und zugleich «kleinere kulturelle Einheiten» (S. 18) mit regionaler oder nationaler Identitätssetzung abzugrenzen. In diesem nicht selten kalkuliertem «Interessenskonflikt zwischen nationalen und internationalen Zielen und Umsetzungsstrategien» (S. 19) bewegen sich die von Sibille betrachteten Organisationen. Sibille fokussiert ihre Arbeit über den Kontrapost von Nationalisierung und Internationalisierung zur Beschreibung der Aktivitäten einzelner Akteure, und schärft ihn – schematisch über die changierenden Pole einer Raute gefasst (Abb. S. 24) – durch Zuschreibungen von disziplinärer Standardisierung und Politisierung.

Sibilles Arbeit fokussiert ihren Blick mit dreifachem Ziel: Es geht um die Entwicklungsperspektive internationaler Organisationen, um Bedeutungszuschreibungen an Musik als nationales versus internationales Phänomen und um das konkrete Nutzbarmachen von Musik durch zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure. Untersucht werden in den Eingangskapiteln der romantische Diskurs zum Kanon der klassischen Musik mit nationalen Prägungen («I. Musik und Nationalismus») und dessen erstaunlich weitgehende Festschreibung durch technische Innovationen als Beitrag zu einer globalen Musikzirkulation («II. New Sounds? Der Einfluss neuer Medien auf alte Kategorien»). Es schliessen sich Analysen an zu musikwissenschaftlichen («III. Die Internationale Musikgesellschaft») und volkskundlichen Organisationen im internationalen Verbund («V. Commission Internationale des Arts Populaires») sowie zu kulturpolitisch dem Völkerbund angebundenen Institutionen («IV. Musik im Völkerbund: Commission Internationale de Coopération Intellectuelle und Institut International de Coopération Intellectuelle»). Das letzte Kapitel behandelt von Komponisten ausgehende internationale Zusammenschlüsse («VI. Internationale Komponistennetzwerke: Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Ständiger Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, International Composer’s Guild and League of Composers»). Wie sehr es Sibille gelingt, das methodische Konzept ohne Korsett durchzuhalten und zudem die beiden übergreifenden Eingangskapitel immer wieder in die Argumentation einzubinden, zeigen etwa die Darlegungen zur Internationalen Musikgesellschaft (1899–1914). Über die Ebenen der Standardisierung und Politisierung werden hier jene «Bruchstellen wissenschaftlicher Kooperation» verdeutlicht, «die zwischen nationalen und internationalen Interessen verliefen» (S. 85). Exemplarisch erhellend sind auch die Ausführungen zum Congrès de Musique Arabe 1932 in Kairo (S. 178 f.), der ein spezifisch arabisches Kulturbewusstsein unter dem Netz europäischer Methoden und Protagonisten (unter den Teilnehmern Paul Hindemith, Béla Bartók und Alois Hába) herzuleiten und zu verwerten suchte. Derlei Beispiele finden sich mehr mit teilweise verblüffenden Einblicken «darüber, wie Denkweisen über Musik als Machtmittel genutzt wurden» (S. 26). Über die eigentliche Darstellung auf begrenztem Raum bilden sie einen Ausgangspunkt weiterführender Fragestellungen und weitergehender Forschungen. Fabelhaft nachvollziehbar werden die Untersuchungen durch kapitelweise Zusammenfassungen, bestens erschliessbar durch eine detaillierte Gliederung und ein Personenregister.

Drei beckmesserische Randnoten: 1) Wohl besticht das Quellen- und Literaturverzeichnis durch Umfang und Sorgfalt. Dass sämtliche Lexikonartikel indes ohne Jahreszahl ihrer konkreten Abfassung (d. h. mit dem immergleichen Abrufdatum 29. 2. 2016) erscheinen, suggeriert die Vorstellung, dieserart Literaturgattung sei seit jeher auf ewig gültige Zeitlosigkeit abgestellt. 2) Dass man in einer kulturhistorischen Arbeit den aktuellen Modewörtern der Wissenschaftssprache nicht entgeht, versteht sich. Das Berlin-Brandenburgische Akademieprojekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) weist etwa für das schier unumgänglich gewordene «verorten» / «Verortung» seit den 1990er-Jahren einen Steilanstieg auf, vor dem sich sämtliche Coronakurven flach ausnehmen (vom nichtssagend zentilliardenfach verschlissenen Wörtchen «spannend» gar nicht zu reden). S. 3) Jenseits aller Argumente für Open-Acess-Publikationen bleibt die Frage, warum dann die Buchvorlage wie ein PDF aus einem mittelguten Drucker wirken muss, das in Papier und Layout eigentlichen Verlagsansprüchen nicht entspricht?

Zitierweise:
Schipperges, Thomas: Rezension zu: Sibille, Christiane: «Harmony Must Dominate the World». Internationale Organisationen und Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Bern: Diplomatische Dokumente der Schweiz, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 208-211. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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